Schnittstelle Notaufnahme: Strukturierte Patientenübergabe zur Erhöhung der Patientensicherheit

Täglich werden mehr als 30.000 Mal Patient:innen, die akut medizinische Hilfe benötigen, von einem Behandlungsteam des Rettungsdienstes (RD) an ein anderes Team übergeben. Übergaben in der Zentralen Notaufnahme (ZNA) sind häufig mit einem hohen Stresslevel und Zeitdruck assoziiert, insbesondere bei kritisch Kranken bzw. Verletzten. Darüber hinaus ist die Übergabe von der präklinischen Versorgung in die ZNA immer auch eine interprofessionelle Übergabe, an der mindestens zwei Berufsgruppen, nämlich Rettungsdienst und Pflege, sowie häufig eine dritte Berufsgruppe, Ärztinnen und Ärzte, beteiligt sind. Unterschiedliche Erwartungen und fachliche Voraussetzungen der verschiedenen Berufsgruppen bieten Potential für Missverständnisse und Fehler (1,2).

Im Sinne einer Staffelstabübergabe besteht für die Übergabe bzw. die Weitergabe patientenrelevanter Informationen in der ZNA nur eine einmalige Gelegenheit. Unwirksame Übergaben haben negative Auswirkungen auf die Patient:innen-Versorgung. Dies umfasst: Fehldiagnosen, Diagnose- und Behandlungsverzögerungen, fehlerhafte Behandlung oder Medikation. Unzureichende, falsche oder fehlinterpretierte Informationen über die vorangegangene Behandlungsphase gefährden somit die Patient:innen. Fehler bei der Übergabe zwischen Rettungsdienst und Zentraler Notaufnahme (ZNA) kommen bis zum heutigen Tage häufig vor und es ist deswegen notwendig, den Übergabeprozess zu standardisieren und strukturierte Übergabeprotokolle anzuwenden (3,4,5). Seit der Veröffentlichung der Übergabemerkhilfe „SINNHAFT“ im Juni 2023 existiert in Deutschland erstmalig ein wissenschaftlich entwickelter Standard für die Übergabe des RD an das Team der ZNA (5). „SINNHAFT“ ist unter Einbeziehung aller notfallmedizinischer Fachgesellschaften durch ein Delphi-Verfahren, das sich an den Regularien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) orientiert, entwickelt worden.

Das Akronym steht für: Start, Identifikation, Notfallereignis und Notfallpriorität, Handlung, Anamnese, Fazit und Teamfragen.

Im Vergleich zu anderen Merkhilfen weist „SINNHAFT“ einige Besonderheiten auf, hierzu zählt die feste Verankerung von Crew Ressource Management Aspekten (CRM). „SINNHAFT“ überprüft die Anwesenheit aller Teammitglieder, vermeidet Manipulationen an Patient:innen während der Übergabe, fokussiert auf eine „Sender-Empfänger“ Beziehung und setzt ein klares Startzeichen. Aus kommunikationspsychologischer Sicht sieht die Merkhilfe einen stakkatoartigen Übergabestil vor, bei dem jeder Teilaspekt durch die übergebende Person angekündigt wird. Ebenso verknüpft „SINNHAFT“ die „Notfallpriorität“ fest mit der „Handlung“, so dass zu jedem „cABCDE-Problem“ direkt die präklinischen Handlungen kommuniziert werden. Anamnesebestandteile wie z.B. Allergien, Medikation und Vorerkrankungen sind mündlich zu übermitteln, wenn sie in direktem Zusammenhang mit der/den Behandlungspriorität(en) (cAB-CDE) stehen und für die unmittelbare/lebensrettende Versorgung von Bedeutung sind. Das „Fazit“ umfasst die Rekapitulation des Notfallereignisses, der Notfallpriorität (ohne Vitalparameter), gekoppelt an die Handlung (ohne Wirkung). Um einen sogenannten Framing-Effekt für das aufnehmende Team zu verhindern, werden die Vitalparameter und die Wirkung der durchgeführten Maßnahmen bewusst nicht wiederholt.

Am Ende der Übergabe wird dem aufnehmenden Team unter dem Punkt „Teamfragen“ die Möglichkeit eingeräumt, Fragen zu stellen (5). Darüber hinaus definiert „SINNHAFT“ auch Sachverhalte wie den Umgang mit fehlenden Informationen oder bewusst unterlassenen Maßnahmen und erlaubt zusammenfassende Aussagen bei Normalbefunden, sodass die Merkhilfe gut auf den individuellen Übergabefall und dessen Besonderheiten Rücksicht nehmen kann (5). Aus Sicht des Autors gibt es derzeit für keine andere Merkhilfe für den Einsatz im Rettungsdienst bzw. an der Nahtstelle zur ZNA eine vergleichbare wissenschaftliche Evidenz. Insofern kann und sollte „SINNHAFT“ für den sofortigen Einsatz genutzt werden. Sowohl für den Rettungsdienst als auch die Mitarbeiter:innen der Zentralen Notaufnahme steht zur Anwenderschulung ein kostenfreies Lernmodul zur Verfügung (https://notfall-campus.de/sinnhaft).

Erfreulicherweise ist eine hohe Akzeptanz beim Rettungsdienst und den ZNA von „SINNHAFT“ zu verzeichnen. Einzelne Landesrettungsdienstschulen haben „SINNHAFT“ bereits in ihren Lehrplan aufgenommen. Die Deutsche Gesellschaft Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e.V. (DGINA) empfiehlt „SINNHAFT“ als Übergabemerkhilfe in der ZNA, ebenso das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) sowie die Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschlands e.V. (BAND e.V.). Bayern hat über den Rettungsdienstausschuss, die Übergabemerkhilfe flächendeckend eingeführt.

Perspektivisch wäre es wünschenswert, „SINNHAFT“ bundesweit als verbindliche Merkhilfe zu etablieren. Konsekutiv würden sich hieraus eine Vielzahl von Vorteilen ergeben. Die Standardisierung würde flächendeckend eine sog. „Common Language of Hand Over” mit sich bringen und parallel würde eine zentral (bundesweit) gesteuerte wissenschaftliche Begleitung und Evaluation neben der Generierung von validen Daten (z. B. Outcomeparameter) auch die kontinuierliche Modifikation / Weiterentwicklung der Übergabeinhalte ermöglichen. Alle Beteiligten sind hier aufgefordert aktiv an der flächendeckenden Standardisierung mitzuwirken, denn nachweislich würde sich dadurch die Patient:innenversorgung und Patient:innensicherheit verbessern.

Wenn Übergabe, dann „SINNHAFT“

Literatur: 1 Clin Teach 10(4):219–223. doi:10.1111/tct.12018 2 Emerg Med Australas 21(2):102–107. doi:10.1111/j.1742-6723.2009.01168.x 3 International Emergency Nursing 18(4):210–220. doi:10.1016/j.ienj.2009.11.006 4 Annals of Emergency Medicine 49(2):196–205. doi:10.1016/j.annemergmed.2006.06.035 5 Notfall Rettungsmed 27(1):19–24. doi:10.1007/s10049-023-01167-4


Korrespondierender Autor: Prof. Dr. med. Ingo Gräff, DESA | Abteilung Klinische Akut- und Notfallmedizin | Universitätsklinikum Bonn | ingo.graeff@ukbonn.de

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